Niemeyer (links) mit Rußlands Außenminister Lawarow
Wie konnte es bloß soweit kommen, daß aus dem 1945 mantraartig von allen Deutschen wiederholten Ruf „Nie wieder Krieg!“ der Satz werden konnte: „Nie wieder Krieg ohne uns!“?! Ausgerechnet unter der ersten rot-grünen Bundesregierung wurde der Tabubruch begangen, frei nach dem Motto: „Die heiligen Kühe müssen von denjenigen geschlachtet werden, die sie genährt haben.“ So kam es, daß der Sozialstaat von SPD-Kanzler Gerhard Schröder ganz im Sinne des Finanzmoguls Carsten Maschmeyer, der ihm ja auch in Millionenhöhe im Bundestagswahlkampf Werbung finanziert hatte, mithilfe der so genannten „Agenda 2010“ ruiniert wurde, die direkt zu einem ausbeuterischen Niedriglohnsektor und Altersarmut geführt hat. Und für das Schlachten der einst gefeierten vermeintlich friedlichen, weil nicht direkt militärischen, Außenpolitik des vereinten Deutschland, waren die vorgeblichen Pazifisten der „Grünen“ zuständig, die dann den völkerrechtswidirgen NATO-Angriffskrieg gegen Serbien vom Zaun brachen. Das dritte Mal in 100 Jahren bombardierten deutsche Militärs Serbien, angeblich um „ein zweites Auschwitz zu verhindern“, wie der damalige Grünen-Außenminister Joseph Fischer verkündete.
Und auch jetzt, seit es wieder eine „grüne Außenpolitik“ mit Frau Baerbock an der Spitze in Berlin gibt, scharren die Menschenrechtskrieger mit den Füßen und wollen unbedingt gegen Rußland in den Krieg ziehen, wenn nicht direkt, so doch wenigstens auf Umwegen, indem sie Waffen, Aufklärung und Ausbildungspersonal der Ukraine zur Verfügung stellen. Zwar wird abgestritten, daß dies die BRD zur Kriegspartei werden lasse, aber im Falle des Iran, der Drohnen an Rußland liefert, wertete Bundeskanzler Olaf Scholz dies als direkte Kriegsbeteiligung des Iran. Zweierlei Maß mal wieder, wie so oft, wenn es um Rußland geht.
Deshalb wird ja auch nicht gelten gelassen, daß das Referendum von 2014 auf der Krim völkerrechtlich ebenso zu bewerten ist, wie das von der NATO im Kosovo abgehaltene Referendum, welches die Unabhängigkeit von Serbien besiegelt hatte. Bei der Krim kommt übrigens noch ein weiterer Aspekt dazu, der es noch klarer machen sollte, daß die Krim eher das Völkerrecht auf ihrer Seite hat, als das Kosovo, nämlich die Tatsache, daß die Bevölkerung der Krim sich bereits im Januar 1991 von der Sowjetunion für unabhängig erklärt hatte, ein halbes Jahr bevor dies auch die Ukraine tat, von dieser allerdings mit einem Federstrich einfach annektiert wurde, gegen den erklärten Willen von über 90% der Bevölkerung.
Über all dieses hätte man mit Rußland reden können, seit 1991, nicht erst im Minsker Prozeß ab 2015, denn da war das Kind bereits in den Brunnen gefallen. Die westlichen Leitmedien nennen das, was seit dem 24. Februar 2022 geschieht „Putins Angriffskrieg“ und blenden dabei völlig aus, daß es eine lange Vorgeschichte dazu gab. 1991 wurden dem letzten Präsidenten der UdSSR, Michail S. Gorbatschow, seitens der westlichen Staatschefs Versprechungen gemacht, denen dieser allzu leichtgläubig per Handschlag den vollen Wert beimaß. In unserem letzten Interview am 13.12.1991, zwölf Tage vor Ende der UdSSR, kritisierte ich Präsident Gorbatschow offen indem ich fragte, was man denn tun könne, um die Bürgerrechte der rund 15 Millionen sich kulturell und sprachlich russisch fühlenden Menschen, die außerhalb Rußlands in dann fremden Staatsgebieten aufwachen würden, abzusichern, mithilfe von Autonomierechten oder starken Minderheitsrechten, aber Herr Gorbatschow meinte, das werde schon friedlich geregelt werden.
legendäres letztes Interview als UDSSR-Staatspräsident 1991
Ich fragte nach der Krim, die soeben von Kiew in einem Handstreich annektiert worden war, indem die ukrainische Regierung, die sich seit Sommer 1991 erst selber gebildet hatte, einfach das Referendum auf der Krim vom Januar 1991 für ungültig erklärt hatte und Herr Gorbatschow entgegnete, daß er ja für die russische Schwarzmeerflotte einen Vertrag ausgehandelt habe, der die weitere Stationierung in Sevastopol erlaube. Hier lagen die kardinalen Fehler, die heute zu den Bürgerkriegen in der Ukraine geführt haben. Erst spät, im Jahr 2014 sah Herr Gorbatschow dies ein und gab mir in einem Gespräch am Rande der 25 Jahrfeier des Mauerfalles von 1989 recht. Dies blenden die westlichen Politiker und die ihnen in vorauseilendem Gehorsam ergebenen Medien völlig aus und machen sich damit mitschuldig an dem gegenwärtigen Krieg, der durch Verhandlungen absolut verhinderbar gewesen wäre. Stattdessen wurde und wird die NATO immer weiter ausgedehnt, fast schon bis in Putin’s Schlafzimmer.
Was der „freiheitlich-demokratische Westen“ aber auch konsequent ignoriert, ist die Tatsache, daß nicht erst 2014, sondern bereits 2004 die „orangene Revolution“ auf dem Maidan Platz in Kiew eben nicht demokratische, rechtsstaatliche Strukturen in der Ukraine gefördert hat, sondern nationalistische und korrupte Kräfte an die Macht gebracht hat.
Statt neuen Rechten erhielten die Ukrainer Neue Rechte, die den Ton angaben. Unterstützung erfuhren die korrupteste Politikerin Europas, Julia Tymoshenko, und ihre Helfer insbesondere aus Brüssel. EU Kommisionspräsident Barroso empfing nicht nur die Ministerpräsidentin zu einer Europäischen Energiekonferenz, ohne Rußland, den Hauptlieferanten einzuladen, was auf meine Frage Herr Barroso als nicht gegen Rußland oder Präsident Putin gerichtet verstanden haben wollte, sondern auch Präsident Juschchenko, der die Aufnahme in die NATO forderte, was ihm auch EU Parlamentspräsident Jerzy Buzek, ein früherer polnischer Minisrterpräsident, nicht ausreden mochten. Meine damalige Nachfrage im Jahr 2009 konterte Präsident Juschchenko mit dem Hinweis, daß die Ukraine unabhängig sei, worauf Parlamentspräsident Buzek rasch noch hinzufügte, daß das ja auch nicht gegen Rußland gerichtet sei. Zugleich verhandelte die EU mit der Ukraine ein Assozierungsabkommen, welches die Freihandelszone, die die Ukraine mit Weißrußland und Rußland unterhielt, de facto beerdigt hätte, es sei denn, man wollte das Europa von Lissabon bis Wladiwostock schaffen, wonach ich den damaligen deutschen Außenminister Gabriel und seinen russischen Amtskollegen Sergei Lawrow 2017 fragte.
Diese Unvereinbarkeit stellte die Ukraine vor eine Zerreißprobe. Wir sehen ja seit dem Brexit anhand von Nordirland, wie schwierig es ist, mit einem Bein in der einen und zugleich der anderen Freihandelszone zu stehen. Auch in Nordirland droht wieder Gewalt, wenn entweder eine harte Grenze auf der Insel eingeführt wird, oder aber durch die Verlegung der Grenze in die irische See de facto Irland wiedervereinigt würde.
Andererseits: warum sollte es nicht möglich sein, Regelungen im Sinne aller Bürger und der Wirtschaft zu finden, so wie es auch in der Schweiz möglich ist, daß ein Staat mit vier Sprachen und kulturellen Unterschiedlichkeiten existiert, der obwohl er von vier EU Mitgliedern umringt ist, trotzdem eine offene Grenze nach allen Seiten unterhält und freien Warenverkehr ermöglicht?
Dafür aber müßte man verhandeln und eine neue Ostpolitik wagen, anstatt einen Bürgerkrieg mit Waffenlieferungen anzuheizen und den russischen Außenminister zur persona non grata bei der wichtigsten Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit KSZE, die heute im polnischen Lodsz tagt, zu erklären. Letzteres beweist lediglich, daß die westlichen Staaten offensichtlich dem russischen Außenminister nicht in die Augen blicken können, da sie seiner Regierung fälschlicherweise die Schuld an dem Krieg zuschieben.
Hier geht es zur Videoanalyse mit Interviewausschnitten mit Präsident Juschchenko und Ministerpräsidentin Tymoschenko 2009
Ralph T. Niemeyer, Jahrgang 1969, war 30 Jahre lang Korrespondent in Bonn, Paris, Washington, Moskau und Brüssel. Bei der Schabowski Pressekonferenz am 9.11.1989 stellte er die letzte Frage, die dann zum Mauerfall führte. Er drehte Dokumentarfilme u.a. über Michail Gorbatschow, Nelson Mandela und Hugo Chavez und deckte als Journalist korrupte Strukturen in Politik, Finanz- und Waffenmafia auf und geriet bei undercover Recherchen selbst in das Visier der Justiz. Seit fast 40 Jahren ist Ralph Niemeyer Friedensaktivist und hat als solcher im Sommer nach Schließung der Nordstream 1 Pipeline die Initiative zur Öffnung von Nordstream2 ergriffen und mit dem russischen Außenminister Lavrov, sowie Kreml Sprecher Peskov und Gazprom Chef Miller direkte Gespräche geführt.