Bäcker haben für gewöhnlich einen anderen Tagesablauf als die meisten Menschen. Sie beginnen mit ihrem Tagewerk, wenn die anderen noch selig schlummern. Als Bäckermeister Lutz Neumann in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 um 2.30 Uhr aufgestanden war, glaubte er, nachdem er sein Radio angeschaltet hatte, seinen Ohren nicht zu trauen: Der RIAS vermeldete, dass die Menschen auf der Mauer tanzen! Auch sein Vater, dem damals noch die Bäckerei gehörte, konnte es kaum glauben. Der Zufall wollte es jedoch, dass Lutz Neumann just für den November einen Antrag eingereicht hatte, um seine Schwester zu besuchen, die Anfang der 80er Jahre in den Westen ausgereist war. Lutz Neumann sollte Pate stehen für seine kleine Nichte. Nach einigem Hin und Her bekam er dann auch seine Papiere, obwohl die Volkspolizei in jenen Tagen völlig überfordert war, weil plötzlich alle am Volkspolizei-Kreisamt Schlange standen, um ein Visum zu bekommen. Denn keiner wusste so genau, wie das mit der neuen Reisefreiheit konkret vonstatten gehen sollte. Auf jeden Fall reiste Lutz Neumann zur Taufe seiner Nichte nach Bad Urach in Baden-Württemberg. Soweit er sich recht erinnert, hat er das Begrüßungsgeld zwar abgeholt, aber wohl gar nicht ausgegeben, weil sein Reiseziel ja in erster Linie die Familienfeierlichkeit war. Auf alle Fälle hatte die Tatsache, dass die Schwester ausgereist war, mit dazu beigetragen, dass Lutz Neumann und seine Familie sich seitdem unter dem wachsamen Auge der Staatsmacht befanden.
Nachdem die Mauer gefallen war, sahen sich auch Lutz Neumann und sein Vater in ihrer Bäckerei mit neuen Anforderungen konfrontiert. „Plötzlich wollten alle Westsemmeln!“, erinnert er sich. Nach und nach brachen sowohl das volkseigene Backwarenkombinat, als auch die Herstellerbetriebe von Backmitteln zusammen. Den Umgang mit den neuen Backmitteln aus dem Westen mussten die einheimischen Bäcker erst lernen. Lutz Neumann ist deshalb sehr dankbar für die Hilfe aus dem Westen, die vor allem aus der Partnerstadt Heidelberg kam. Dort saß der Bäckermeister Otto Schwefel im Stadtrat, der sich für die Belange der Berufsgenossen aus der Oberlausitz stark machte. „So konnten wir kostenlos Lehrgänge an der Berufsfachschule in Weinheim besuchen“, sagt Lutz Neumann. Dadurch erwarben die hiesigen Bäcker das Rüstzeug, um in der Marktwirtschaft bestehen zu können.
In der Rückschau befindet Lutz Neumann, dass die DDR-Bürger genügsamer waren, als viele Mitmenschen heute. Die Grundversorgung sei immer gesichert gewesen und die Preise für die Grundnahrungsmittel wurden gestützt. Wohl auch deshalb hatten die Leute so lange stillgehalten. Im Allgemeinen sei mit den Lebensmitteln sorgsamer umgegangen worden. Mittlerweile beobachtet Lutz Neumann aber auch heute eine Trendwende. Es kämen zunehmend vor allem junge Leute in den Laden, die bewusst einkaufen. Sie wüssten es zu schätzen, dass die privaten Bäckereien „gläsern“ sind, also genau nachweisen können, wo ihre Rohstoffe herkommen. „Wir achten auf hohe Qualität und können und wollen somit mit den Dumpingpreisen der Discounter nicht konkurrieren“, sagt der Obermeister der Bautzener Bäcker-Innung.
Natürlich hat sich Lutz Neumann über die fehlende Reisefreiheit zum DDR-Zeiten geärgert. Doch damit sei es heute ja auch nicht mehr so weit her. Und auch die allgegenwärtige Bespitzelung sei sehr belastend gewesen. Aber man dürfe auch die Augen nicht davor verschließen, dass es mit der Überwachung der Menschen auch heute weitergehe, dank ausgeklügelter modernster Technologien. Dass man in der DDR bis zu 18 Jahre auf ein Auto warten musste, sei auch nicht schön gewesen. Und dringend benötigte Bäckerei-Maschinen seien den Handwerksbetrieben nur über Sonderkontingente zugewiesen worden.
Für die Zukunft wünscht sich Lutz Neumann, dass die Menschen sich frei entwickeln können und nicht gegängelt und überwacht werden. Für sich selbst wünscht er sich, dass er seinen Beruf gesund bis zur Rente ausüben kann. Zusammen mit seinem Sohn möchte er neue Kreationen entwickeln, die er auch mithilfe moderner Medien wie Instagram unter die Leute zu bringen gedenkt. Für die Stadt Bautzen wünscht er sich, dass endlich das ewige Gezerre mit „Links“ und „Rechts“ aufhört, sondern dass gemeinsam das Gute für die Stadt gesucht wird. Konkrete Vorschläge sollten ernsthaft diskutiert werden können, egal, von welcher Seite sie kommen. Es sei unannehmbar, wenn manche Leute sagen: „Mit denen rede ich nicht“.