Vor wenigen Monaten, am 1. September, stand ich im Morgengrauen auf
dem Marktplatz einer kleinen Stadt in Polen: Wieluń, den meisten
Deutschen wenig bekannt. Gemeinsam mit dem polnischen Präsidenten, in
Anwesenheit von trauernden Bürgerinnen und Bürgern, haben wir dort der
Bombardierung der Stadt vor achtzig Jahren gedacht.
Damals, am 1. September 1939, brachten Sturzkampfbomber der
deutschen Luftwaffe Tod und Zerstörung über Wieluń – ohne jede
Vorwarnung. Ihr Bombenhagel traf eine ahnungslose, wehrlose und
militärisch völlig unbedeutende Stadt. Er zertrümmerte das Krankenhaus,
verwüstete den Marktplatz, brannte den Stadtkern nieder, tötete in der
ersten Stunde des Krieges 1.200 Menschen.
Die Bomben von Wieluń waren das erste Verbrechen in einem Krieg, den
das nationalsozialistische Deutschland in die Welt trug. Sie waren Vorboten
des Grauens, das deutsche Selbstüberhebung, deutscher Rassenwahn und
deutscher Vernichtungswille in den folgenden sechs Jahren über Europa
brachten. Sie markieren den Beginn einer Entgrenzung der Gewalt, die im
Zweiten Weltkrieg weit mehr als fünfzig Millionen Menschen das Leben
kostete. Der sechs Millionen ermordeten Juden, der Gequälten und
Ermordeten in den Konzentrationslagern haben wir erst vor wenigen
Wochen in Yad Vashem, Auschwitz und Berlin gedacht.
Der Angriff auf Wieluń war auch der Auftakt zu einem brutalen
Bombenkrieg, in dem die Zivilbevölkerung in den Städten ins Fadenkreuz
geriet. Die deutsche Luftwaffe auf der einen, britische und amerikanische
Bomber auf der anderen Seite zerstörten im Verlauf des Krieges hunderte
Städte in fast allen Ländern Europas. Sie zogen eine noch nie dagewesene
Spur der Verwüstung, die von Großbritannien über Deutschland bis nach
Russland reichte. Als dieser Krieg im Mai 1945 mit der Befreiung Europas
vom Nationalsozialismus endete, lagen weite Teile des Kontinents unter
Asche und in Trümmern.
Heute haben wir uns hier versammelt, um an die Luftangriffe auf Dresden
vor 75 Jahren zu erinnern. Wir gedenken der Opfer des Bombenkrieges in
dieser Stadt, in Deutschland und in Europa. Und wir gedenken aller Opfer
von Völkermord, Krieg und Gewalt.
Das Inferno, das in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 über
Dresden hereinbrach, haben Augenzeugen immer wieder beschrieben. In
zwei Wellen bombardierten britische Flugzeuge die Stadt. Brand- und
Sprengbomben entfachten einen verheerenden Feuersturm. Als die
Amerikaner die Luftangriffe am Aschermittwoch fortsetzten, blickten sie auf
eine brennende Stadt.
Heute wissen wir: Bis zu 25.000 Menschen kamen damals ums Leben, große
Teile des historischen Stadtkerns und angrenzender Wohnviertel wurden
verwüstet. Innerhalb weniger Stunden zerstörten die Bomben vieles von
dem, was Menschen hier in Dresden über Jahrhunderte aufgebaut hatten.
Wen die Bomben trafen, blieb dabei dem Zufall überlassen. Sie gingen auf
Kinder, Frauen und Männer nieder, auf Dresdner und auf Flüchtlinge aus
Ostpreußen und Schlesien. Sie fielen auf Soldaten wie auf Kriegsgefangene;
auf überzeugte Nazis und Gestapo-Leute wie auf Widerstandskämpfer,
Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge. Und so zufällig, wie die Bomben
zehntausende Menschenleben auslöschten, so zufällig retteten sie auch
einige wenige: Jüdinnen und Juden wie Henny Wolf oder Victor Klemperer
rissen sich in jener Nacht den gelben Stern von der Kleidung und konnten
im allgemeinen Chaos untertauchen oder fliehen.
Wer den Feuersturm überlebte, war oft körperlich und seelisch schwer
gezeichnet. Das Heulen der Sirenen, das unheilvolle Dröhnen der Flugzeuge
und das rote Leuchten am Himmel; die Todesangst und die Enge im Keller;
die Einschläge der Bomben, das splitternde Glas und die zerberstenden
Mauern; das tosende Feuer, das allen Sauerstoff aus Straßen, Häusern und
Trümmerhöhlen sog; die verbrannten Menschen und das Skelett der Stadt
– unzähligen Augenzeugen sind die Bilder, Geräusche und Gerüche der
Schreckensnacht nie mehr aus dem Kopf gegangen. Angst und Ohnmacht
haben sich tief in ihre Seelen gefressen. Und wer in den folgenden Tagen
mithalf oder als Zwangsarbeiter mithelfen musste, die entstellten Leichen
aus den Ruinen zu bergen, auch den hat das Grauen oft nie wieder
losgelassen.
Viele haben ihre Erlebnisse in Notizen, Briefen oder Tagebüchern
festgehalten und versucht, die bedrückende Last auf diese Art zu bannen.
Viele haben ihren Kindern und Enkeln davon erzählt. Manche haben erst
Jahre später die Kraft gefunden, über ihre Geschichte zu sprechen –
ermutigt auch durch ein neues öffentliches Interesse am Bombenkrieg,
durch die Debatten um Leid und Schuld, die wir seit Ende der 1990er Jahre
in unserem Land geführt haben.
Hier in Dresden sind es die Stimmen von Dora Baumgärtel und Liesbeth
Flade, von Günter Jäckel, Götz Bergander und vielen anderen, die uns von
jener Nacht und der anschließenden Not berichten. Viele der Überlebenden
sahen ihre Angehörigen nie wieder; hatten ihre Wohnung und ihre
persönlichen Erinnerungsstücke verloren; besaßen nur noch das, was sie
hatten greifen können, als der Alarm losging. Wer mit dem Leben
davongekommen war, der suchte oft verzweifelt Halt auf den Trümmern
seiner Heimat.
Manchmal sind es nur wenige Worte, die uns nahegehen. So wie die Worte,
die Lina Skoczowsky wenige Tage nach den Angriffen hier in Dresden auf
eine Postkarte schrieb:
„Lieber Vati! Deine 3 sind zusammen. Alles verloren.“
Nicht nur aus Dresden kennen wir solche Stimmen. Wir kennen sie aus allen
deutschen Städten, die während des Zweiten Weltkrieges Luftangriffe
erlitten, manche immer wieder. Wir kennen sie aus Lübeck und Hamburg,
aus Wuppertal und Köln, aus Pforzheim, Würzburg, Darmstadt und
Hannover, aus Berlin und Potsdam, Halberstadt und Magdeburg, aus
Rostock, Chemnitz und vielen anderen mehr.
Wir kennen ähnliche Stimmen auch aus Städten in Italien und dem
besetzten Frankreich, aus Neapel und Genua, Le Havre und Royan. Wir
kennen sie aus den Städten Europas, die von der deutschen Luftwaffe
zerstört wurden – aus Warschau und Rotterdam; aus London, Coventry und
Liverpool; aus Belgrad, Leningrad und vielen anderen mehr. Und wir kennen
sie aus Guernica, der baskischen Stadt, die deutsche Kampfflugzeuge der
„Legion Condor“ bereits 1937 in Schutt und Asche gelegt hatten. Wolfram
von Richthofen, der später auch den Angriff auf Wieluń befehligen sollte,
notierte damals knapp in sein Tagebuch:
„Guernica, Stadt von 5.000 Einwohnern, buchstäblich dem Erdboden
gleichgemacht. […] Bombenlöcher auf Straßen noch zu sehen, einfach toll.“
Es war auch dieser menschenverachtende Zynismus, der in die Katastrophe
führte. Historische Fotos zeugen heute vom Ausmaß der Verwüstung in
ganz Europa. Sie führen uns vor Augen, was damals in unseren Städten –
auch hier in Dresden – für immer verloren ging. Sie lassen uns ahnen, wie
groß die Leistung vor allem der vielen Frauen war, die unmittelbar nach
Kriegsende den Wiederaufbau in Gang setzten, oft mit bloßen Händen. Und
ich finde, wir sollten, ja wir müssen auch heute versuchen, die Angst, den
Schmerz und die Verzweiflung der Opfer und Hinterbliebenen des
Bombenkrieges zu ermessen. Mein Dank gilt allen, die hier in Dresden und
an vielen anderen Orten unermüdlich mithelfen, die Erinnerung an sie
lebendig zu halten – und die sich zugleich denen entgegenstellen, die diese
Erinnerung missbrauchen wollen, um Hass und Ressentiments zu schüren.
Es ist auch das Verdienst dieser engagierten Bürgerinnen und Bürger, dass
wir heute sagen können: Die Opfer des Bombenkrieges sind unvergessen.
Ihr Leben und ihr Schicksal sind und bleiben eingeschrieben in unsere
kollektive Erinnerung.
Ich bin überzeugt: Wer sich heute mit der Geschichte seiner Familie oder
seiner Stadt im Bombenkrieg auseinandersetzt, der kann auch besser
nachempfinden, was andere Menschen an anderen Orten erlitten haben.
Aufrichtige Erinnerung lehrt uns Mitgefühl. Aufrichtige Erinnerung lässt uns
Eigenes wie Fremdes sehen und verstehen. Sie lässt uns Anteil nehmen am
Schicksal aller Opfer von Krieg und Gewalt, über nationale Grenzen hinweg.
Ich danke allen hier in Dresden, die schon seit Jahren den Blick der
Erinnerung weiten und den Austausch mit Städten auf der ganzen Welt
suchen, von Coventry bis nach Breslau und Sankt Petersburg.
Wenn wir heute an die Geschichte des Bombenkrieges in unserem Land
erinnern, dann erinnern wir an beides: an das Leid der Menschen in
deutschen Städten und an das Leid, das Deutsche anderen zugefügt haben.
Wir vergessen nicht. Es waren Deutsche, die diesen grausamen Krieg
begonnen haben, und es waren schließlich Millionen Deutsche, die ihn
führten – nicht alle, aber doch viele aus Überzeugung. Es waren die
Nationalsozialisten und ihre willigen Vollstrecker, die den Massenmord an
den Juden Europas ins Werk setzten. Und es war das Nazi-Regime, das das
Morden auch dann nicht einstellte, als es den Krieg längst verloren wusste.
Wir vergessen die deutsche Schuld nicht. Und wir stehen zu der
Verantwortung, die bleibt.
Wenn wir heute an den Bombenkrieg erinnern, dann wissen wir auch: Schon
damals wurde in Großbritannien und unter den Alliierten die Frage
diskutiert, ob die sogenannten Flächenbombardements, bei denen auch
zehntausende Soldaten des „Bomber Command“ ums Leben kamen,
militärisch sinnvoll, völkerrechtlich erlaubt, moralisch legitim seien. Bis
heute beschäftigt diese Frage die Historiker und Philosophen, nicht zuletzt
in Großbritannien.
Wir brauchen diesen nüchternen Blick, um zu verstehen, wie es damals zu
jener Eskalation der Gewalt kommen konnte. Wir brauchen ihn, um
Antworten auf die Frage zu finden, welche Mittel heute geboten und zulässig
sein können, um schwere Verbrechen zu beenden. Aber die Frage nach
alliierter Schuld führt auf Abwege, wenn sie gestellt wird, um deutsche
Schuld zu relativieren. Wenn wir heute der Opfer in deutschen Städten
gedenken, dann geht es uns nicht um Anklage, nicht um Vorwürfe und
schon gar nicht um Aufrechnung.
Viel zu oft und viel zu lange ist die Geschichte der Luftangriffe auf Dresden
ideologisch zugerichtet und politisch vereinnahmt worden, erst von den
Nationalsozialisten, dann vom SED-Regime. Und auch in diesem
Gedenkjahr müssen wir erleben, wie politische Kräfte die Geschichte
manipulieren, umdeuten und als Waffe missbrauchen wollen.
Deshalb will ich heute deutlich sagen: Wer heute noch die Toten von
Dresden gegen die Toten von Auschwitz aufrechnet; wer versucht,
deutsches Unrecht kleinzureden; wer wider besseres Wissen historische
Fakten verfälscht, dem müssen wir als Demokratinnen und Demokraten die
Stirn bieten, dem müssen wir laut und entschieden widersprechen!
Aber ich sage auch: Wer das Leiden der Menschen, der Bombenopfer in
dieser Stadt ignoriert oder bagatellisiert; wer die Bombardierung als
„gerechte Strafe“ hinstellt oder Gesten der Trauer ins Lächerliche zieht,
auch der wird der Geschichte nicht gerecht, und auch er verhöhnt die Opfer.
Lassen Sie uns gemeinsam für ein Gedenken eintreten, das das Leid der
Opfer und Hinterbliebenen in den Mittelpunkt stellt und zugleich nach den
Gründen für dieses Leid fragt. Und lassen Sie uns gemeinsam gegen all jene
kämpfen, die Erinnerung als Munition missbrauchen wollen, um ihre
ideologischen Schlachten zu schlagen!
Ich freue mich, dass viele engagierte Bürgerinnen und Bürger hier in
Dresden diesen Weg seit vielen Jahren gehen. Die Menschenkette, zur der
sich auch heute Abend wieder Tausende in dieser Stadt zusammenschließen
werden, ist ein starkes Zeichen für ein solches Gedenken im Geist der
Verständigung, und ich bin dankbar, dass ich mich nachher gemeinsam mit
Ihnen einreihen kann.
Längst haben Sie hier in Dresden nicht nur die Geschichte der Luftangriffe,
sondern auch die Geschichte Ihrer Stadt im Nationalsozialismus in den Blick
der Erinnerung gerückt – nicht um Leid aufzurechnen, sondern um aus der
Vergangenheit für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen.
Wir wissen, die Zerstörung der Kulturstadt Dresden geschah nicht über
Nacht und nicht nur im Februar 1945. Die Zerstörung der Kulturstadt
Dresden begann bereits 1933 – so wie die Zerstörung vieler Kulturstädte
überall in Deutschland. Sie begann, als hier nur wenige Wochen nach der
Machtübergabe an Hitler auf offener Straße Bücher verbrannt wurden; als
der Dirigent Fritz Busch aus der Semperoper gebrüllt wurde, weil er mit
jüdischen und ausländischen Musikern zusammenarbeitete; als Otto Dix
und andere zeitgenössische Künstler verjagt und jüdische Wissenschaftler
von ihren Lehrstühlen vertrieben wurden.
Die Zerstörung der Kulturstadt Dresden begann, als Regisseure,
Schriftsteller, Journalisten, Verleger und viele andere mehr wegen ihrer
jüdischen Herkunft oder ihrer politischen Überzeugung verfolgt und verjagt
wurden. Viele, wie die Sängerin Therese Elb und die Schauspielerin Jenny
Schaffer-Bernstein, wurden später deportiert und ermordet. Auch hier in
dieser Stadt war es ein Fanal, als in der Nacht des 9. November 1938 –
viele Jahre vor der Semperoper – die Semper-Synagoge in Flammen
aufging.
Die Zerstörung der Vernunft, die Zerstörung der Kultur, die Zerstörung der
Bürgergesellschaft begann auch hier in Dresden, als ganz normale
Bürgerinnen und Bürger jüdische Geschäfte boykottierten; als sie ihre
Nachbarn aus dem öffentlichen Leben, den Schulen, den Parks ausgrenzten;
als viele sich dem Nazi-Regime anbiederten oder einfach schwiegen. Mitten
in dieser Stadt lebten unzählige Zwangsarbeiter aus Dresden und aus
Europa, die Munition und Waffen herstellen mussten. Die Nazi-Justiz ließ
am Münchner Platz politisch Andersdenkende ermorden. In PirnaSonnenstein wurden kranke und behinderte Menschen vergast. In Zeithain
bei Riesa verhungerten sowjetische Kriegsgefangene zu Tausenden.
Auch hier in Dresden führt uns die Erinnerung heran an die Abgründe des
Nationalsozialismus. Auch hier in dieser Stadt wurde seit 1933 das
menschliche Leben erschreckend oft missachtet, wurde die menschliche
Würde erschreckend oft mit Füßen getreten.
Wir gedenken heute auch dieser Opfer, wir erinnern an ihr Leid. Wir tun es
nicht, um damit anderes Leid zu rechtfertigen. Aber wir tun es auch, um
eine Frage zu stellen, die uns bis heute alle angeht. Die Frage, wie in einer
scheinbar zivilisierten Gesellschaft alle Dämme brechen, alle Regeln von
Mitmenschlichkeit und Humanität über Bord geworfen und barbarische
Gewalt entfesselt werden konnte.
Die Bombardierung Dresdens erinnert uns an die Zerstörung des
Rechtsstaates und der Demokratie in der Weimarer Republik; an
nationalistische Selbstüberhebung und Menschenverachtung; an
Antisemitismus und Rassenwahn. Und ich befürchte, diese Gefahren sind
bis heute nicht gebannt.
Denn wir erleben ja, wie in manchen Ländern die Sehnsucht nach
Abschottung und autoritärer Politik zunimmt. Wir erleben, wie mitten in
Europa die Freiheit der Presse, der Kunst, der Wissenschaft eingeschränkt
wird. Wir erleben, wie auch in unserem Land Antisemitismus und
Fremdenfeindlichkeit das öffentliche Leben wieder zu vergiften beginnen,
wie Rechtsstaat und demokratische Institutionen verächtlich gemacht und
ihre Repräsentanten beleidigt und angegriffen werden. Wenn gewählte
Abgeordnete heute die Parlamente, in denen sie sitzen, vorführen und
lächerlich machen, dann ist das der Versuch, die Demokratie von innen zu
zerstören.
Es reicht nicht, wenn Demokratinnen und Demokraten erschauern und sich
angewidert abwenden. Nichts davon darf in unserem Land unwidersprochen
bleiben. Wir alle müssen Hass und Hetze zurückweisen, Beleidigungen
widersprechen, Vorurteilen entgegentreten. Wir alle müssen, so erbittert
der politische Streit in der Sache auch sein mag, Diskussionen mit Vernunft
und Anstand führen und die Institutionen unserer Demokratie schützen.
Es verläuft eine klare Grenze zwischen einer freiheitlichen Demokratie, die
die Würde des Einzelnen schützt, und einer autoritär-nationalistischen
Politik, deren Vertreter Andersdenkende und Anderslebende als Feinde des
angeblich „wahren Volkes“ ausschließen wollen. Diese Grenze müssen wir
verteidigen, jeder von uns. Denn wir alle tragen, jeder an seinem Platz,
Verantwortung für das Zusammenleben und für die Demokratie in unserem
Land. Auch das ist eine Lehre aus dem deutschen Irrweg, der zur Zerstörung
Dresdens geführt hat.
In wenigen Monaten erinnern wir uns an das Ende des Zweiten Weltkrieges
und die Befreiung vom Nationalsozialismus vor 75 Jahren. Damals, im Mai
1945, gab es für die überlebenden Opfer und Verfolgten des
nationalsozialistischen Regimes erstmals wieder so etwas wie eine Zukunft.
Zugleich schien vielen Menschen auf unserem Kontinent die Lage
aussichtslos, nicht nur in Deutschland. In den Trümmerwüsten der
zerbombten Städte wagte kaum jemand zu glauben, dass Europa noch eine
Zukunft haben könnte.
Aber in den Schuttbergen und Ruinen schlug auch ein Wunsch tiefe
Wurzeln: „Nie wieder!“, das war für viele, die den Krieg überlebt hatten, ein
Lebensauftrag, ein Auftrag für die Zukunft. „Nie wieder!“, das war der
Anfang einer langen Geschichte von Frieden und Versöhnung in Europa, die
damals kaum jemand für möglich gehalten hätte.
Wir vergessen nicht: Schon in den 1950er Jahren streckten Frauen und
Männer in Coventry die Hand zur Versöhnung aus, in jener Stadt, die die
deutsche Luftwaffe 1940 so schwer verwüstet hatte. Das Nagelkreuz von
Coventry, zusammengesetzt aus drei Nägeln der zerstörten Kathedrale, ist
bis heute ein starkes Symbol für Frieden und Verständigung.
Und wir vergessen nicht, wie viele Briten und Amerikaner nach der
Wiedervereinigung unseres Landes mit ihren Spenden zum Wiederaufbau
der Frauenkirche hier in Dresden beigetragen haben. Das goldene
Kuppelkreuz, gestaltet vom Sohn eines britischen Bomberpiloten, ist ein
Zeichen der Versöhnung, das weit über diese Stadt hinausstrahlt.
Ich freue mich, dass wir auch heute gemeinsam mit Vertreterinnen und
Vertretern der ehemaligen Kriegsgegner an die Bombardierung Dresdens
erinnern. Das gemeinsame Gedenken verbindet uns, über Grenzen hinweg.
Your Royal Highness, Exzellenzen, ich bin Ihnen dankbar für diese Geste
der Freundschaft.
Der Weg der Versöhnung hat uns in ein geeintes Europa geführt. Dieses
Europa ist die Lehre aus Jahrhunderten von Krieg und Verwüstung, von
Hass und Gewalt. Es ist entstanden aus dem Geist des Widerstands gegen
Rassenwahn und Totalitarismus, aus dem Geist der Freiheit, der Demokratie
und des Rechts. Gemeinsam haben wir unglaublich viel erreicht. Wir
Deutsche bedauern, dass Großbritannien die Europäische Union nun
verlassen hat. Aber wir wissen auch, wir bleiben Partner. Unsere
Freundschaft ist tief. Was uns verbindet, ist stärker als das, was uns im
Streit über die EU zuletzt getrennt hat.
Nach dem schrecklichen Krieg haben die Staaten der Welt Maßstäbe für eine
Friedensordnung gesetzt, die auf Menschenrechten und Völkerrecht
beruhen sollte. Gerade in einer Zeit, in der der Wille zur friedlichen
Zusammenarbeit mancherorts wieder abnimmt, wollen wir Deutsche unsere
historische Verantwortung annehmen und diese Friedensordnung
verteidigen, gemeinsam mit unseren Partnern. Denn wir wissen: Jeder
Friede bleibt zerbrechlich.
Im November 2018 habe ich in London am Cenotaph, dem Ehrendenkmal
von Whitehall, gestanden und gemeinsam mit Prince Charles der Toten des
Ersten Weltkrieges gedacht. Ich habe einen Kranz niedergelegt, an dem
diese kurze Notiz befestigt war:
„Ich fühle mich geehrt, hier Seite an Seite zu gedenken, bin dankbar für die
Versöhnung und blicke voller Hoffnung auf eine Zukunft in Frieden und
Freundschaft.“
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns diesen Weg der Versöhnung
weitergehen. Lassen Sie uns gemeinsam Verantwortung übernehmen für
den Frieden. Und lassen Sie uns die Würde eines jeden Menschen schützen.
Auch und gerade hier in Dresden.
Herzlichen Dank.