Ein warnender Bericht von Andreas Manousos
„Barrierefreiheitsstärkungsgesetz 2025: Ein Gesetz voller Fallstricke – Abmahnindustrie und Rechtsunsicherheit auf dem Vormarsch“
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), das am 28. Juni 2025 in Kraft tritt, markiert einen bedeutenden Meilenstein für die digitale Inklusion. Es basiert auf der EU-Richtlinie 2019/882, dem sogenannten European Accessibility Act (EAA), der seit Jahren darauf abzielt, Menschen mit Behinderungen eine gleichberechtigte Teilhabe am digitalen und gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. In Deutschland wurde diese Richtlinie jedoch mit spürbaren Schwächen umgesetzt, die nicht nur rechtliche Unsicherheiten, sondern auch wirtschaftliche und gesellschaftliche Risiken mit sich bringen.
Das Gesetz verpflichtet private Unternehmen, digitale Produkte und Dienstleistungen barrierefrei zu gestalten. Darunter fallen Hardware wie Computer und Smartphones, Selbstbedienungsterminals, Webseiten, Online-Shops, Bank- und Telekommunikationsdienste. Ziel ist es, dass Menschen mit Behinderungen ohne fremde Hilfe und ohne zusätzliche Erschwernisse diese Angebote nutzen können. Die Anforderungen orientieren sich an den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) 2.1 Level AA, die internationale Standards für Barrierefreiheit vorgeben. Doch trotz dieser klaren Vorgaben bleiben wesentliche Aspekte unklar und sorgen für Unsicherheit.
Bestehende Webseiten und die Fehlannahme eines Bestandsschutzes
Eine verbreitete Fehlannahme betrifft die Frage, ob bestehende Webseiten und Dienstleistungen von den Anforderungen des BFSG ausgenommen sind. Auf der offiziellen Webseite der Bundesregierung heißt es dazu:
„Das BFSG gilt für folgende Produkte, die nach dem 28.06.2025 in den Verkehr gebracht werden: Hardwaresysteme einschließlich Betriebssysteme, Selbstbedienungsterminals, Verbraucherendgeräte, E-Book-Lesegeräte. Das BFSG gilt für folgende Dienstleistungen, die für Verbraucherinnen und Verbraucher nach dem 28.06.2025 erbracht werden: Telekommunikationsdienste, Personenbeförderungsdienste, Bankdienstleistungen, E-Books, elektronische Geschäftsverkehrsdienstleistungen.“ (Quelle)
Diese Formulierung kann den Eindruck erwecken, dass bestehende Webseiten und Dienstleistungen, die vor dem Stichtag 2025 in Betrieb genommen wurden, vom Gesetz ausgenommen sind. Dies ist jedoch nicht korrekt.
Warum besteht kein Bestandsschutz?
- Fortlaufende Nutzung bestehender Angebote: Produkte und Dienstleistungen, die vor dem 28. Juni 2025 auf den Markt gebracht wurden, bleiben nur dann von den neuen Anforderungen verschont, wenn sie nach dem Stichtag nicht mehr aktiv angeboten oder genutzt werden. Eine weiterhin betriebene Webseite oder ein im Verkehr befindliches Produkt, das nach 2025 bereitgestellt wird, fällt unter die Regelungen des BFSG.
- Aktive Marktüberwachung: Marktüberwachungsbehörden sind befugt, sowohl neue als auch bestehende Angebote auf ihre Konformität mit den gesetzlichen Anforderungen zu prüfen. Webseiten und digitale Produkte, die nicht den Barrierefreiheitsstandards entsprechen, können beanstandet werden – unabhängig davon, wann sie erstellt oder veröffentlicht wurden.
- Gesetzliche Zielsetzung: Das BFSG verfolgt das Ziel, langfristig eine barrierefreie Gesellschaft zu schaffen. Ein genereller Bestandsschutz für bestehende digitale Angebote würde dieses Ziel konterkarieren, da Barrieren für Menschen mit Behinderungen bestehen blieben.
Folgen für Betreiber bestehender Webseiten
Für Betreiber bestehender Webseiten bedeutet dies: Auch wenn Ihre Webseite vor 2025 online ging, müssen Sie sicherstellen, dass sie den neuen Anforderungen entspricht. Die fehlende explizite Ausnahmeregelung im Gesetz schafft Raum für Unsicherheiten und eröffnet Abmahnern und klagefreudigen Verbänden ein potenzielles Einfallstor. Betreiber, die nach dem Stichtag Mängel nicht beheben, riskieren Abmahnungen, Bußgelder und gerichtliche Auseinandersetzungen.
Rechtsfolgen: Keine Planungssicherheit für Unternehmen
Eines der Hauptprobleme des BFSG ist die unklare Rechtslage, insbesondere in Bezug auf die Frage, wann Maßnahmen als ausreichend gelten. Unternehmen könnten erst durch Rechtsstreitigkeiten erfahren, ob ihre Umsetzungen den gesetzlichen Anforderungen entsprechen.
Praktische Konsequenzen
Rechtsstreitigkeiten: Wird ein Unternehmen verklagt, liegt die Beweislast bei den Betreibern. Sie müssen vor Gericht darlegen, dass ihre Webseite oder ihr Produkt den Anforderungen des BFSG genügt. Dies kann zu hohen Kosten und langen Verfahren führen.
Nachträgliche Anpassungen: Wenn das Gericht entscheidet, dass die Maßnahmen unzureichend waren, sind Unternehmen verpflichtet, weitere Anpassungen vorzunehmen – oft unter Zeitdruck und zusätzlichen Kosten.
Rufschädigung: Abmahnungen und Klagen können den Ruf eines Unternehmens nachhaltig beschädigen, insbesondere wenn Verstöße öffentlich gemacht werden.
Missbrauch durch Abmahnindustrie
Die rechtliche Unsicherheit eröffnet Raum für Missbrauch durch Abmahnvereine und klagefreudige Anwälte. Aus Erfahrungen mit der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) ist bekannt, dass solche Akteure bereits mit den Hufen scharren, um das BFSG als lukrative Einnahmequelle zu nutzen. Besonders kleinere Unternehmen sind gefährdet, da sie sich oft auf Vergleiche einlassen, um langwierige und teure Prozesse zu vermeiden.
Die politischen Akteure hinter dem Gesetz
Das BFSG wurde unter der Verantwortung von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und der damaligen Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) umgesetzt. Beide stehen in der Kritik, die wirtschaftlichen Folgen für Unternehmen nicht ausreichend berücksichtigt und den bekannten Problemen des Abmahnwesens keine ausreichende Beachtung geschenkt zu haben. Auf europäischer Ebene trugen Jean-Claude Juncker und Věra Jourová maßgeblich zur Verabschiedung der EU-Richtlinie bei, deren praktische Umsetzung auf nationaler Ebene sich nun als problematisch erweist.
Fazit: Dringender Handlungsbedarf
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz verfolgt ein wichtiges Ziel, bleibt jedoch in seiner aktuellen Form unzureichend durchdacht. Die unklare Rechtslage und das Fehlen eines klaren Bestandsschutzes schaffen erhebliche Unsicherheiten für Unternehmen. Ohne Nachbesserungen droht das Gesetz, mehr Konflikte zu erzeugen, als es löst. Unternehmen sollten dringend handeln, um rechtliche Risiken zu minimieren, und gleichzeitig fordert die Wirtschaft von der Politik klare Leitlinien und Schutzmaßnahmen gegen Missbrauch.
Quellenverzeichnis
- Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
- Fachanwalt.de: Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz 2025
- Deutscher AnwaltSpiegel: Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
- Aktion Mensch: Barrierefreiheitsstärkungsgesetz – Kritik und Umsetzung