Mit ihren Mitstreitern von der Tanzgruppe des VEB Waggonbau Bautzen probte Szilvia Schiffel am Abend des 9. November 1989 im Saal des damaligen Hotels Stadt Bautzen, der heute als Krone-Saal bekannt ist, für das Programm des Schubert-Chor-Faschings, der am darauffolgenden Wochenende über die Bühne gehen sollte. Einige später Kommende platzten mit der Nachricht hinein, dass die Grenze in Berlin offen sein soll. Szilvia Schiffel erinnert sich noch gut daran, dass etliche Teilnehmer gleich nach dem Ende der Probe loszogen, um sich selbst von dieser bahnbrechenden Neuigkeit zu überzeugen. Die junge Mutter von zwei Kindern hatte es nicht so eilig. Denn erstens musste sie sich ja um Sohn und Tochter kümmern und zweitens hatte sie als ungarische Staatsbürgerin den Blick hinter die Mauer schon wagen dürfen. Ihr Vater, der mit seiner Familie 1972 nach Bautzen gezogen war, um beim Sorbischen Nationalensemble eine Stelle als Tänzer anzutreten, war 1979 im Westen geblieben und lebt seitdem in Braunschweig. Mit ihrem ungarischen Reisepass konnte Szilvia Schiffel ihn jederzeit besuchen. Daher war sie wesentlich besser über die wahren Verhältnisse im Westen informiert und machte sich keine Illusionen darüber, dass der Westen wirklich so „golden“ sei, wie ihn sich ihre ostdeutschen Mitbürger erträumten. Szilvia Schiffel findet, wenn die DDR ihren Bürgern mehr Reisefreiheit gewährt hätte, hätten sie viel besser erkennen können, was sie nach der Wiedervereinigung erwarten würde. So wäre ihnen manche Enttäuschung erspart geblieben. „Ich wäre nie auf die Idee gekommen, im Westen zu bleiben, denn ich hatte meinen Lebensmittelpunkt in Bautzen“, sagt Szilvia Schiffel. Ihr Vater hatte übrigens keinen leichten Neustart gehabt, als er dort geblieben war.
Mit ihren damaligen Ehemann und den Kindern fuhr Szilvia Schiffel dann aber doch etwa 14 Tage nach der Grenzöffnung nach West-Berlin, um das Begrüßungsgeld in Empfang zu nehmen. Gekauft wurden nur Kleinigkeiten, nämlich Süßigkeiten und Obst für die Kinder. Den Rest des Geldes trug Szilvia Schiffel in einen Großmarkt für Friseurprodukte, um ihre Kunden mit Westprodukten zu verwöhnen. In den hinteren Räumen der Puppenklinik ihres Mannes in der Reichenstraße betrieb Szilvia Schiffel damals ihren ersten eigenen Friseursalon, bis sie wegen des Wechsels des Hausbesitzers in die Kesselstraße umziehen musste. In den letzten Jahren der DDR beschäftigten sie und ihr Mann, der „Puppendoktor“, mehrere Ausreisewillige, die in staatlichen Einrichtungen nicht mehr angestellt werden durften. Daher vermutet sie, dass die Firma „Horch und Guck“ ein wachsames Auge auf ihren Salon gerichtet hatte.
Obwohl es schlimm gewesen sei, dass ihre Mitbürger so eingesperrt gewesen seien, findet Szilvia Schiffel, dass die DDR auch viele gute Seiten hatte. Die Gleichberechtigung der Frauen sei hier kein leeres Wort gewesen. „Wer sich nichts zuschulden hat kommen lassen, konnte es weit bringen“, sagt sie. So habe sie gleich nach ihrer Ausbildung 1980 ihr eigenes Geschäft übernehmen können. Und die Ausbildung sei sehr fundiert gewesen. Das habe sie gemerkt, als sie in Lörrach die Meisterausbildung aufnahm. „Wir konnten denen sogar noch was zeigen“, sagt sie.
Die Wiedervereinigung sei einfach zu schnell gekommen, findet Szilvia Schiffel. Die DDR hätte viel mehr Gutes in das vereinte Deutschland mit einbringen können und müssen. So zum Beispiel die vorbildlich geregelten Vorsorgeuntersuchungen der Kinder oder die Regelung, dass Schüler erst nach der 8. Klasse eine höhere Bildungseinrichtung besuchen. Unterm Strich findet Szilvia Schiffel: „Sie haben uns über den Löffel balbiert!“ Leider stünden heute der Mensch und die Familien nicht mehr im Vordergrund, sondern nur noch der „Tanz ums Goldene Kalb“.
Für die Bautzener Zukunft wünscht Szilvia Schiffel sich eine breitere Vielfalt im Geschäftsleben und dass die vielen kleinen privaten Initiativen nicht aussterben. Eine breit gefächerte Struktur des Handwerks sei wünschenswert. Leider sei wegen der abschreckenden Gewerbemieten und des daraus resultierenden Leerstands die Innenstadt zunehmend unattraktiv geworden. Die geplante neue Spreebrücke befürwortet Szilvia Schiffel deswegen. Sie könnte ein Magnet werden, um die Stadt wieder anziehender zu machen.